Vorwort: Eine fotografische Auseinandersetzung mit KZ-Gedenkstätten in Deutschland von Christian Geisler
Ich lebe nur 15 km vom ehemaligen Konzentrationslager Neuengamme entfernt und wusste lange nichts über dessen Geschichte oder wie es dort aussieht. Viele Male bin ich auf dem Weg zur Elbe an der Gedenkstätte vorbeigefahren – meistens mit einem komischen Gefühl. Vor zwei Jahren war es dann soweit: Ich hielt an und ging ziellos über das Gelände. Las hier und da eine Beschreibung der einzelnen Gebäude bzw. deren Überreste. Ab diesem Zeitpunkt wuchs in mir der Wunsch, mehr über die Gedenkstätten in Deutschland zu erfahren und meine Eindrücke fotografisch festzuhalten.
Ich reiste allein zu den Gedenkstätten, ging zuerst ohne Aufnahmen zu machen über das Gelände. Die Vorstellung, dass hier während des Dritten Reiches unbeschreiblich viele Menschen ermordet wurden, machte mich hilflos. Dann fing ich langsam an zu fotografieren. Um mich von meinem Blick lenken lassen zu können, arbeitete ich vom Stativ aus. Diese Herangehensweise half mir, das Grauen, welches mich dort erfasste, sichtbar zu machen. Oft standen mir dabei die Tränen in den Augen – mal vor Wut und mal ohnmächtig vor Scham.
Für die Aufnahmen wählte ich als Format das Quadrat. Fotografierte mit meiner Hasselblad auf Color-Negativfilm, beschränkte mich auf ein leichtes Weitwinkelobjektiv und bevorzugte ein diffuses Licht.
Einleitung: Eine Reise nach Weimar von Dr. William Boehart
Es war im Herbst 1999, als wir uns das erste Mal nach der Grenzöffnung von Mölln aus auf den Weg nach Weimar machten, meine Frau, unsere damals 15-jährige Tochter und ich. Wir wollten ein Wochenende in der thüringischen Stadt verbringen. Goethe, Schiller, Herder, Nietzsche, Bauhaus wie auch die Herzogin Anna Amalia Bibliothek und der Versammlungsort der Weimarer Verfassung – ein kultur- und geschichtsträchtiger Ort. In der Tasche hatten wir außerdem Tickets für eine Aufführung der Zauberflöte im Nationaltheater. Es sollte eine klassische bürgerliche Bildungsreise zu der Stätte der deutschen Klassik sein. Unweit der Stadt befand sich die Gedenkstätte Buchenwald, die wir auch besuchen wollten. Unsere Tochter hatte vor kurzem im Rahmen einer schulischen Exkursion die Gedenkstätte besucht.
Damals hatte ich Buchenwald mit Ernst Thälmann verbunden, der dort am 18. August 1944 von den Nazis ermordet wurde. Über Thälmann hatte ich als Stadtarchivar in Geesthacht – in der Weimarer Republik als „Klein Moskau“ überregional bekannt – geforscht. Der Hamburger Kommunistenführer war vor 1933 einige Male im „roten“ Geesthacht gewesen.
Während der Autofahrt entlang der B 9 dachte ich über meinen ersten Kontakt mit dem Holocaust nach. Ich bin amerikanischer Staatsbürger und kam erst Mitte der 1970er-Jahre nach Deutschland, wo ich im Fachbereich Geschichte promovierte, eine Familie gründete und als Archivar im Kreis Herzogtum Lauenburg arbeitete. In meiner Erinnerung war ein Film verhaftet geblieben, den ich als junger Teenager Anfang der 1960er-Jahre im amerikanischen Fernsehen gesehen hatte: The Diary of Anne Frank. Es war abends, ich war alleine zu Hause und hatte, ohne irgendwelche pädagogischen Vorbereitungen, den Film eingeschaltet. Ich wusste nicht, was mich erwartete. Auch über 50 Jahre später kann ich einzelne Szenen aus dem Film gedanklich abrufen. Ich hatte am Ende hemmungslos geweint.
Seitdem habe ich studiert, bin älter und weine selten. Inzwischen habe ich viel gelesen und gesehen, Geschichte in Kategorien und Begriffen festgehalten und beschrieben. Über die nationalsozialistische Gewaltherrschaft in der Region Kreis Herzogtum Lauenburg habe ich geforscht und veröffentlicht, Gedenkstätten – auch mit Schulklassen – besichtigt und erläutert. So eine Arbeit ermöglicht Einsichten und schafft Wissen – aber auch Distanz. Wir berufen uns gern auf Thomas Hobbes, wenn wir ein passendes Zitat für die Grausamkeit der Menschen untereinander benötigen: homo homini lupus (zu Deutsch: Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.). Aber empfinden wir wirklich das, was dieses Zitat aussagt? Geht es uns wirklich an?
Weimar war schön, das Kulturprogramm anregend und die Aufführung der Zauberflöte wunderbar. Wir hatten schon zwei gute Tage in der Stadt verlebt, als wir am Sonntag den Ettersberg hinauffuhren. Bald erreichten wir die monumentale Gedenkanlage, die in den 1950er-Jahren im Stil des sozialistischen Realismus auf einem Areal errichtet worden war, in dem Massengräber des ehemaligen KZs lagen. Eine Begehung hoben wir auf. Wir wollten zuerst das ehemalige Konzentrationslager besichtigen.
Viel von der einst großen Anlage war nicht zu sehen. Das Torgebäude mit dem denkwürdigen Spruch „Jedem das Seine“, eine Baracke, Kellerräume, das Krematorium, Stacheldraht, Reste der Bahnanlage und der große mit unzähligen kleinen Steinen und Splittern versehenen Appellplatz. Das neue, nach der Wiedervereinigung entwickelten Konzept für die Gedenkstätte, war 1999 noch im Aufbau. Die Anlage machte einen fast verlassenen Eindruck; wir gehörten an dem Tag zu den wenigen Besuchern, die über das Gelände liefen. Der Schotter knirschte unter unseren Füßen. Wir lasen einige Texttafeln und kauften einen Guide. Unsere Tochter erzählte von ihrem Schulprojekt. Bald entdeckte ich am Krematorium die Gedenktafel für Ernst Thälmann. Wir sprachen wenig miteinander.
Für meinen Teil fühlte ich mich leicht unwohl, wie ein Fremder an einem Ort, zu dem er keineswegs gehören wollte. Was sagten mir diese Steine und die Gebäude aus Beton und Holz, diese leblosen Gegenstände, die Menschen – ja, ich gehörte doch dazu, denn ich bin auch Mensch – zusammenfügten, um eine Stätte des Grauens zu errichten, um andere Menschen durch Arbeit zu vernichten oder einfach in einer Gaskammer zu ermorden? Sie schienen mir den Schmerz, die Verzweiflung und die Sehnsüchte nach Leben der Abertausende von Menschen zusammenzuhalten, die hier interniert, erniedrigt, gefoltert und ermordet wurden. Sie waren doch keine toten Gegenstände, sondern hatten die Geschichte des Ortes in sich aufgesaugt. Sie hielten das unbeschreibliche Leid von Abertausenden von Menschen fest. Sie erzählten sogar davon, wenn man die Ohren hatte, die sie verstehen konnten. Ich sehe mich heute, während ich diese Zeilen schreibe, wie ich 1999 auf dem großen Appellplatz stand und meinen Gefühlen der Trauer und des Entsetzens nachhing – wie damals bei dem Film Dairy of Anne Frank. Diese Worte, die ich schreibe, sind viel zu armselig, um das auszudrücken, was damals geschah, oder was ich dort an einem Herbsttag 1999 empfand. In den letzten Abgrund der menschlichen Seele hineinschauend, versagen die Worte; oder wie Mr. Kurtz auf seinem Sterbebett liegend in Joseph Conrads Heart of Darkness aushauchte: „The horror, the horror.“
Wozu denn das Ganze? Mitleid gehört heute nicht zu den sexy Wörtern. In unserer Ich-Gesellschaft ist wenig Platz dafür. Mitleid ist eher etwas für Loser. Der Aufklärer Gotthold Ephraim Lessing sah das anders. Er schrieb in seiner Hamburgischen Dramaturgie: „Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch“. Was meinte er damit? Lessing wies mit der Behauptung auf die beabsichtigte Wirkung eines Trauerspiels auf den Zuschauer hin. Das Trauerspiel ruft Mitleid hervor, das den Zuschauer seelisch reinigen und moralisch bessern soll. Es handelt sich bei Lessing nicht um eine Resignation, um ein Mitleid, das in sich kehrt und Passivität zur Folge hat, sondern um den Auftrag zum moralischen Handeln. Oder mit den Worten des englischen Dichters des 16. Jahrhunderts, John Donne, zu sprechen:
No man is an island,
Entire of itself.
Every man is a piece of the continent,
A part of the main.
….
Any man's death diminishes me,
Because I am involved in mankind,
And therefore never send to know
for whom the bell tolls;
It tolls for thee.
Niemand ist eine Insel,
in sich ganz.
Jeder ist ein Stück des Kontinents,
Ein Teil des Ganzen.
…
Jedes Menschen Tod ist mein Verlust,
denn ich bin Teil der Menschheit;
und darum verlange nie zu wissen,
wem die Stunde schlägt;
sie schlägt dir selbst.
Buchenwald ist ein Ort, der im Lessingschen Sinne Mitleid hervorruft, und das noch intensiver, als ein Schauspiel je bewirken könnte. Denn diese Stätte des Grauens war real. Wer auf die stillen Schreie der Steine und Gebäude hört, wird verstehen, dass sie einen Auftrag zum Handeln enthalten.
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